Leseprobe

“Schattenkrone - Der Fluch der Spiegelwelt”

Eine alte Legende flüstert von drei göttlichen Schwestern, deren Macht seit Anbeginn der Zeit in den drei Kontinenten verborgen liegt.

Im Herzen der endlosen Finsternis, wo kein Licht jemals hinfällt, regiert Umbra, die Göttin der Dunkelheit und Schatten. Mit reiner Schattenessenz formte sie den Kontinent Noxveil. Mit einer einzigen Geste erschuf sie eine kleine Schar von Menschen, die das Erbe der Magie in sich trugen und zu Magiern auserwählt wurden. Fortan hatten sie die Aufgabe, die dunkle Macht Tenebris zu erlernen und zu bewahren.

Die Welt war gefangen in einem Meer aus Schatten, die alle Hoffnung erstickten und das Licht aus den Herzen der Menschen verbannte. In dieser trostlosen Zeit, als die Sterne am Himmel zu erlöschen schienen und das Licht der Sonne von der Dunkelheit verschlungen wurde, rief Lunara, die Göttin des Lichts einen weiteren Kontinent ins Leben: Lumenia. Ihre Strahlen erfüllten das Land mit Licht und Wärme, wordurch Leben hervorgebracht wurde. Sie formte mit ihren Händen fünf Magier, um die Fähigkeit Lichtmagie Lux zu wirken.

Zwischen der tiefen Finsternis und dem strahlenden Licht erhob sich Eleira, die Göttin der Reflexion und des spiegelnden Lichts. Mit ihrer Macht formte sie eine harmonische Balance, eine perfekte Woge zwischen Dunkelheit und Helligkeit. Aus der Dunkelheit schuf sie eine glatte, tiefschwarze Oberfläche – so dunkel, dass das Licht darin gefangen und reflektiert werden konnte. Das Spiegelartefakt, das sie schuf, war nicht nur ein Objekt, sondern ein Symbol ihrer Macht: Eine dunkle Tiefe, die das Licht in sich einfing und es in schimmernden Strahlen zurückwarf, wie ein Flüstern zwischen Schatten und Glanz. Der Kontinent Reflektoria erhob sich aus dem glitzernden Meer und wurde überschüttet mit der Macht der Reflexion Eikonis. Eleira formte mit ihren Händen fünf Magier, die mit ihrer Fähigkeit, das Licht zu manipulieren und die Dunkelheit zu beherrschen wussten. Die Göttin der Reflexion teilte die Welt in zwei Hälften - die reale Welt und die Spiegelwelt, um Ressourcen sammeln zu können. Dadurch gab sie den Magiern die Macht, zwischen diesen beiden Welten zu wandeln. Doch erst mussten sie die Geheimnisse der Spiegel lernen, zu verstehen.

Damit die jeweils fünf Magier der drei Kontinente ihre Magie wirken konnten, gab jede der drei Göttinen ein Artefakt in die Händen der Bewohner, das sie gut behüten mussten. Gemeinsam entschieden die göttlichen Schwestern, dass Eleira für das Gleichgewicht der Energiequellen sorgen sollte. Daher bekam der Kontinent Reflektoria ein zweites Artefakt, um sich besser verteidigen und schützen zu können.

So schön auch die Glanzseiten der Artefakte waren, hatten sie auch eine Schattenseite, die es nicht zu unterschätzen galt. Manchmal entfliehen auch heute noch Kreaturen aus den Quellen der Magie. Sie kriechen in die Seele der Menschen, um Besitz von ihnen zu ergreifen. Von der menschlichen Natur bleibt nichts weiter als eine leere Hülle. Dies konnte zu großem Ungleichgewicht führen. Doch die Magier von Reflektoria hielten das Gleichgewicht der drei Kontinente fest in ihren Händen. Mit ihrer einzigartigen Magie sorgten sie dafür, dass das fragile Band zwischen Licht und Schatten niemals zerriss. Sie reisten von Ort zu Ort, heilten Kranke mit selbst hergestellter Medizin und lösten Streitigkeiten, bevor sie eskalierten. Ihre schimmernde Magie wirkte wie ein sanfter Strom, der durch die Länder floss, um sicherzustellen, dass Harmonie herrschte. Immer wachsam, immer bereit, griffen die Magier ein, sobald die Balance ins Wanken geriet – und brachten Ordnung, wo Chaos drohte. Bis zu jenem Tag, an dem das Gleichgewicht endgültig zu kippen drohte und die Kräfte des Wandels wie ein Sturm über die Kontinente zogen...

Aus Macht wurde Habgier. Habgier wurde zur Sucht, so groß, dass sie nichts mehr zu stillen vermochte. Denn die Versuchung, eine größere Macht zu besitzen, war zu stark, um dem Verlangen widerstehen zu können. Lange Zeit lebten die magischen Menschen friedlich nebeneinander, getrennt durch Grenzen, aber vereint in Harmonie. Doch dann geschah etwas Unvorhersehbares, etwas, das selbst den allwissenden Schwestern verborgen geblieben war...

So brach eines Tages ein Krieg zwischen den drei Königreichen aus. Viele Magier ließen ihr Leben in den Schlachten, noch mehr erlitten unvorstellbare Wunden. Dreißig lange Lebensbögen tobte der Krieg, bis die Verzweiflung so groß war, dass es keinen anderen Ausweg mehr gab als die Flucht. Die Reflektorianer zogen sich zurück, schützten sich, indem sie die reale Welt verließen, und verschwanden in die Parallelwelt. Für die anderen Kontinente schien es, als hätte Reflektoria nie existiert. Wo einst das glitzernde Land, durchzogen von leuchtenden blauen Kristallen, erstrahlte, war nur noch trostlose Leere zu sehen.

Bevor sie jedoch flohen, webten die Spiegelmagier einen mächtigen Illusionszauber. Mit ihm raubten sie den Menschen die Erinnerungen an den schrecklichen Krieg, sodass kaum jemand nach Reflektoria suchen würde. Nur die wenigen Überlebenden, die den Täuschungen der Spiegelmagie widerstanden, wussten, was wirklich geschehen war.

Alles, was zurückblieb, war eine Prophezeiung...

Eine Bestie, dunkel und mächtig,

Trifft auf ein Artefakt, reflektierend und prächtig.

Was einst verloren, wird nun gefunden,

Durch eine verschollene Seele gebunden.

Sie führt den Weg ins versunkene Reich,

Wo Licht und Dunkel sich treffen zugleich.

Sanft ziehe ich die Decke über Nyxara, deren zierlicher Körper in den Falten des abgenutzten Stoffes geborgen liegt. In ihrer Neugier und Unschuld strahlt sie in ihren neun Jahren wie ein kleiner Lichtstrahl in der Dunkelheit. Elara, die fünfzehnjährige Schwester, und die zwölfjährige Liora sind bereits zugedeckt und murmeln leise miteinander im Hintergrund, ihre Stimmen wirken dabei wie zarte Flüstertöne, die in die Stille der Nacht tanzen.

Es ist unser geheiligtes Ritual, dass ich immer zuletzt zu Nyxara komme, um ihr noch einen Moment der Zuneigung zu schenken. Sie hat es sich so gewünscht, und es ist mir eine Freude, ihr diesen kleinen Wunsch zu erfüllen. Jedes Mal erhellt ein strahlendes Lächeln ihr Gesicht, als wäre sie der kostbarste Schatz der Welt.

Liebevoll küsse ich ihr die Stirn, während ich behutsam eine lose Strähne aus ihrem Gesicht streiche.

»Schlaf gut, mein Lichtglanz«, flüstere ich ihr zu. Ihre Augen blitzen auf. In diesem müden Blick schimmert eine tiefe Hoffnung, wie der erste Lichtstrahl, der die Dunkelheit durchbricht. Darin liegt noch so viel mehr, so viel Zuversicht, dass ich Sylphira und den Kindern eines Tages ein besseres Leben schenken kann. Doch während ich in diesen Blick versinke, nistet sich ein Schatten des Zweifels in mein Herz. In mir tobt eine innere Unsicherheit, die wie ein kalter Windhauch über die warme Glut meiner Träume fegt. Besitze ich wirklich die Kraft, das Unmögliche zu erreichen?

Es wird immer schwieriger für mich, den Alltag zu bewältigen, besonders jetzt, wo Sylphira mit ihrer Krankheit kämpft. Seitdem die Lichtkreaturen sie befallen haben, trage ich die Verantwortung für uns fünf allein. Früher war sie diejenige, die für die Kinder kochte und mit ihnen spielte, während ich mich um die Schatten der Nacht kümmerte. Das Stehlen fiel mir leichter, als mein Geist noch unbeschwert war und nicht von ständigen Sorgen geplagt wurde – Sorgen darüber, wie lange Sylphira noch an unserer Seite sein wird oder ob die Kinder mit ihren wirren Vorhersagen klarkommen können. Ihre Worte können manchmal grausam sein, besonders wenn sie von der Dunkelheit spricht, die wie ein Schatten über uns schwebt und mir das Herz schwer macht.

»Wann bist du wieder zurück? Wird es denn lange dauern?« Nyxaras Frage trifft mich wie ein scharfer Dolch ins Herz. Ich wünschte, ich könnte ihr versichern, dass ich hierbleiben würde, nur einen Raum weiter, und dass ich nie wieder fortgehen müsste. Doch die Worte bleiben mir im Hals stecken, unfähig, die Sehnsucht nach Sicherheit und Beständigkeit in ihr kleineres, verletzliches Herz zu pflanzen.

»Es dauert nicht lange. Zur Sonnenwacht, sobald du deine Augen wieder öffnest, bin ich wieder da. Versprochen, mein kleiner Lichtglanz. Und jetzt schlaf, dann vergeht der Mondgang wie im Traum.« Mit meinem Zeigefinger stupse ich sanft ihre Nase und zwinkere ihr verschmitzt zu. Augenblicklich kneift sie die Augen zusammen, zieht die Decke bis zur Nasenspitze hoch und hebt kurz darauf eines ihrer Lider, um zu sehen, ob ich bereits gegangen bin. Ein Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen, bevor ich mich endgültig erhebe.

»Kuschelst du dich dann zu mir, Mina?«

Mina. Zwar bin ich nicht ihre Mutter, aber Mina kommt ihrer Meinung nach der Bedeutung einer Mutter schon sehr nahe. Das Wort hat sie erfunden und es bedeutet: Meine irrsinnig naturbegabte Abenteurerin.

»Natürlich, mein Lichtglanz.« Noch einmal streiche ich sanft durch ihr Haar, um es ein letztes Mal vor meinem Coup liebevoll durchzuwuscheln. »Bis später. Pass auf deine Schwestern auf, meine Große«, flüstere ich sanft in ihr Ohr, sodass nur sie es hören kann.

»Nicht, du kitzelst mein Ohr!«, kichert Nyxara unter dem abgenutzten Stoff.

Langsam schiebt sie die Decke über ihre Nasenspitze, und ihre Augen beginnen heller zu funkeln als die Sterne am ozeanblauen Himmel. Ihr breites Grinsen strahlt den unbeschreiblichen Stolz aus, den sie stets zeigt, wenn man ihr sagt, sie sei schon groß. In diesem Moment erfüllen Stolz ihre hellblauen Augen. Bevor ich mich endgültig abwende, streichle ich liebevoll ihre Wange und genieße den kurzen, zauberhaften Augenblick.

»Schönen Mondgang, meine Kinder.«

»Schönen Mondgang!«, rufen alle drei im Chor. Ihre Stimmen hallen noch für einen Moment in mir nach, während ich die Tür sanft schließe. Jedes Mal aufs Neue versetzt mir dieser Abschied einen Stich ins Herz. Und jedes Mal erfüllt mich die Angst, nicht mehr zurückzukehren. Dass dieser Abschied endgültig sein würde. Doch niemals würde ich es soweit kommen lassen! Ich werde immer alles in meiner Macht stehende tun, um sie zu beschützen. Sie im Stich zu lassen, würde mir den Atem rauben. Es wäre, als säße ich in einer Zelle voller stacheliger Nadeln gefangen, die auf mich herabprasseln wie der heiße Regen im Warmschimmer.

Für einen Moment verharrt meine Hand an der Türklinke, während ich meinen Kopf sanft gegen das abgenutzte Holz der Tür lehne. Ein Gefühl der Dankbarkeit durchströmt mich, dass ich dieses Versteck gefunden habe. Es mag zwar klein erscheinen – ein Gebäude mit nur drei Zimmern – doch es bietet einen überraschenden Raum für uns. Das Wohnzimmer geht nahtlos in die Küche über, und von dort aus führen schmale Gänge zu zwei weiteren Zimmern: dem Kinderzimmer und meinem Schlafzimmer.

Trotz der abblätternden Wände und dem muffigen Geruch der alten Holzdielen, die sich im Laufe der Jahre abgenutzt haben, empfinde ich das Gefühl von Sicherheit. Es mag kein luxuriöser Ort sein, und der Komfort ist mehr als fraglich, doch es ist unser Rückzugsort, unser Unterschlupf. Für uns reicht das allemal. Natürlich träumen wir von mehr: von einem heimeligen Feuer, das den kalten Winter vertreibt, denn die frische, eisige Luft dringt ungehindert durch die Ritzen und Spalten des Gebäudes. Oder dass die Kinder eine gute Ausbildung genießen dürfen. Doch in diesem Moment zählt vor allem der Schutz, den uns dieses versteckte Zuhause bietet. Obwohl uns oft das Gold fehlt, ist es ein vertrauter Kampf, den wir führen. Die wenigen Münzen, die ich durch einen Coup ergattere, reichen meist nur für eine Sonnenwacht. Ein Teil davon geben wir meist an die anderen bedürftigen Seelen im Armenviertel Nebelfeste, denn niemand sollte in dieser harten Welt allein leiden müssen.

Vielleicht gelingt es mir eines Tages, noch mehr zu stehlen? Vielleicht wird das gesammelte Gold eines Tages ausreichen, um uns ein besseres Leben zu ermöglichen. Wer weiß, was die Zukunft bringt…

Leise entweicht ein Seufzer aus meiner Brust und sofort werde ich in die Zeit zurückversetzt, als ich noch ein kleines Kind war. Damals lebten Sylphira und ich ständig an anderen Orten, stets auf der Flucht. Es war ein Wettlauf gegen die Zeit. Jede Rast konnte unser Untergang sein, denn die Gefahr, entdeckt zu werden, lauerte hinter jeder Ecke.

Doch zu zweit war die Flucht leichter zu planen als jetzt, wo wir zu fünft sind und die ständige Bedrohung durch den Orden der strahlenden Klinge über uns schwebt. In diesem Versteck zu sein, ist ein wahrgewordener Traum und mit jedem Atemzug sende ich stille Gebete aus, dass niemand jemals von unserem Geheimnis erfährt.

»Es ist schon wieder so weit«, murmelt Sylphira hinter mir im Wohnzimmer. Ihre Stimme hat einen krächzenden Klang, der mir jedes Mal aufs Neue einen Schauer über den Rücken jagt, als wäre sie das unheilvolle Knarzen eines alten Holzhauses, das droht, jeden Moment in sich zusammenzubrechen. Ein kalter Wind streift über meinen Nacken und lässt mich frösteln. Zögernd wende ich mich zu ihr um, als ob ich der drückenden Atmosphäre entfliehen möchte, die sich wie ein Schatten zwischen uns legt. »Die Dunkelheit wird kommen, die Finsternis wird uns einnehmen«, murmelt Sylphira weiter. Sie sitzt in einem Schaukelstuhl, der sanft hin und her wippt, während sie starr zu Boden blickt. »Nicht ein weiteres Mal. Nein! Ein endgültiges Mal.«

Sylphira wurde als Lichtseherin geboren, doch die Menschen in Nebelfeste erkennen ihre Bestimmung oft erst, wenn sie von den Lichtkreaturen befallen werden oder unabsichtlich einen Zauber wirken. In diesen entscheidenden Momenten naht der Orden der strahlenden Klinge, um solche magischen Aktivitäten im Keim zu ersticken. In Nebelfeste ist die Ausübung von Magie durch Ungelehrte streng verboten. Sie gehört allein dem Königreich Lumenia und den benachbarten wohlhabenden Städten.

Diejenigen, die von Lichtkreaturen befallen sind, finden in der grausamen Umarmung des Todes ihre einzige Erlösung. Diejenigen, die unabsichtlich die Magie entfesseln, werden entweder brutal bestraft oder in ihrer Freiheit beschnitten, je nach Schwere ihres Vergehens. Ich kann nicht anders, als zu denken, dass die armen Menschen in Nebelfeste nicht für ihr Schicksal verantwortlich gemacht werden sollten. Ihnen wird die Kunst der Magie vorenthalten, während sie hilflos zusehen müssen, wie andere sie vor dem drohenden Unheil schützen könnten. So bleibt ihnen nur der verzweifelte Wunsch, die dunklen Mächte abzuwehren, während sie im Schatten leben, ohne je die Fähigkeit zu erlernen, sich selbst zu verteidigen.

Sanft lege ich Sylphira meine Hand auf ihre Schulter, um sie zu beruhigen. Dabei entwischt mir ein leises »Shh…«. Kurz darauf gehe ich vor ihr auf die Knie, um ihren starren Blick zu erwidern. »Ich bin jetzt für eine Weile weg. Bitte geh schlafen, Moma.«

Ich nenne sie Moma, seit sie mich eines Tages wie einen achtlos weggeworfenen Müllsack am Ufer des Flusses aufgelesen hat. Seit diesem schicksalhaften Tag hat sie mich mit der gleichen Hingabe umsorgt, wie ich nun für Nyxara, Liora und Elara sorge. Ich habe die Letzteren auf dem Marktplatz gefunden, als sie in tiefster Not waren, verloren und verängstigt. Seitdem ist es mein Lebenszweck geworden, für sie zu sorgen und sie zu beschützen, so wie Moma einst für mich da war.

»Cassandra!«, reißt sie mich aus meinen Gedanken. Ihre Augen sind jetzt weit aufgerissenen, und sie sieht mich an, als wäre ich eine düstere, dunkle Kreatur. Ihre sonst so strahlend blaue Iris wirkt verblasst und grau, als wäre sie blind, und doch kann ich ein dunkelgelbes Leuchten wahrnehmen. Das ist eines der Merkmale, wenn jemand von Lichtkreaturen befallen ist.

»Shh, alles ist gut, Moma. Ich bin ja hier.« Meine Lippen beben. Tausend Nadelstiche durchbohren jedes Mal ein Stück mehr mein verwundetes Herz, wenn ich sie so sehe. Doch ich muss stark sein. Für sie und für die Kinder.

»Sie kommen, Cassandra. Sie kommen«, flüstert Sylphira und zieht mich dabei noch näher zu sich heran. Dabei strömt mir ein verwester Geruch entgegen, der aus ihrem Mund kommt.

Ich versuche meine Miene nicht zu verziehen und konzentriere mich auf das Wesentliche. »Wer wird kommen, Moma?«

Als hätte sie vergessen, dass ich da bin, weiten sich ihre Augen vor Schreck, während ihr Körper kurz bebt. Ihre Augen fixieren mich, nachdem er für einen kurzen Moment über den Raum schweifte. »Die Dunkelheit wird über uns wachen. Sie wird uns so nahe sein, so nah, wie das Licht uns die Sonnenwacht erhellt. Wir werden in ewiger Dunkelheit leben müssen. Die Dunkelheit naht.« Sie atmet die Luft harsch ein, als wäre sie ihr für einen Moment komplett entwichen. »Die Dunkelheit…«, haucht sie mir angestrengt entgegen und lässt anschließend ihre Schultern fallen.

Meine Kehle schnürt sich zusammen, dabei läuft mir der Schweiß in den Händen zusammen. Schnell wische ich sie an meiner Hose ab.

Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob es sich wirklich um echte Prophezeiungen handelt. Im Grunde ist Sylphira nicht in der Lage, diese Magie zu beherrschen. Weder hat sie eine Schule dafür besucht, noch ein Selbststudium abgelegt. Sie wird lediglich von diesen Lichtkreaturen gesteuert, die sich tief in ihr Bewusstsein einnisten und langsam auffressen. Doch ich habe einmal von jemandem aufgeschnappt, dass trotz allem die Lichtkreaturen Magie kontrollieren und wirken können. Vielleicht sind die Prophezeiungen also doch wahr? Was, wenn sie die Wahrheit spricht? Ein Schauder zieht sich über meinen Rücken, den ich mit einer ruckartigen Bewegung versuche abzuschütteln.

»Ich bin bald wieder da, Moma.« Meine Stimme ist beinahe ein raues Flüstern, das nur schwer über meine Lippen gleitet.

„Beeile dich, mein Kind“, krächzt sie mit einer drängenden Unruhe in der Stimme, während ich mich langsam erhebe. Kaum habe ich einige Schritte von ihr entfernt, beginnt der Schaukelstuhl, in dem sie sitzt, unruhig zu wackeln. Die Kufen des Stuhls, die über den Boden scharren, wandeln sich zu einem immer lauter werdenden Quietschen, das in der stillen Luft nachhallt. Ihre Stimme wird hysterisch, als würde sie gegen einen unsichtbaren Sturm ankämpfen, der sie in die Tiefe reißen will. »Beeile dich, denn die Dunkelheit naht! Die Dunkelheit ist schon ganz nah!«, ruft sie mir aufbrausend hinterher.

Mit einem Mal verstummt das Krächzen des Stuhls und unangenehme Stille breitet sich aus. Alles, was ich jetzt noch hinter mir hören kann, ist ein hoffnungsloses Wimmern.

»Bitte, bleib hier.« Sie klingt flehend, beinahe bettelnd. Als wäre dies ihr größter Wunsch, dass ich hierbleibe. »Sie werden dich sonst holen kommen. Uns holen kommen. Sie machen keine Ausnahme. Nicht mal für dich. Dein Schicksal ist besiegelt, wenn du durch die Tür schreitest. Du wirst nicht mehr zurückkommen. Nicht heute. Nie wieder!«

Harsch ziehe ich die Luft zwischen meinen Zähnen ein. Alles klingt so nachvollziehbar, aber es ist nicht das erste Mal, dass sie mir so etwas sagt. Jeden Tag äußert sie derartige Grausamkeiten. Doch irgendetwas ist anders. Mein Bauchgefühl sagt mir, ich sollte ihr zuhören, ihr Glauben schenken und tun, was sie sagt. Doch mein Verstand will gehen, den Job erledigen und bald darauf wieder zurückkehren, um mit Nyxara im Bett zu kuscheln.

Eine Träne bahnt sich ihren Weg über meine Wange. Ich wünsche mir, Sylphira könnte noch ein einziges Mal normal mit mir reden. Dass sie mir andere Dinge sagen würde und mich in den Arm nimmt. Ich wünsche mir Moma zurück, so wie ich sie vor einem halben Lebensbogen noch hatte.

Die Wut zieht meine Brust zusammen, mein Herz rast in Windeseile gegen diesen aufkommenden Sturm in mir. Es muss doch eine Lösung geben! Sylphira soll wieder gesund werden! Sie MUSS gesund werden! Wir sollten alle ein schönes Leben haben und nicht ständig in Angst und Schrecken verweilen. Der Orden der strahlenden Klinge und ihre Prinzipien verschlucken uns bis nichts mehr von all dem Schönen übrig ist, das wir trotz unserer Situation erleben und festhalten dürfen.

Und doch bringe ich es einfach nicht über mein Herz, das gesamte gestohlene Gold nur für uns zu behalten. All die anderen armen Menschen von Nebelfeste sind mit uns in einem Boot. Warum sollen sie es schlechter haben als wir? Zusammenhalt ist unser wertvollstes Gut, das wir noch haben. Oder?

Schattenkrone - Der Fluch der Spiegelwelt

Zwei Welten, ein verfluchtes Erbe und eine Macht, die alles ins Wanken bringt

Cassandra, eine Diebin aus Lumenia, wird gezwungen, ein mächtiges Spiegelartefakt aus der Schattenwelt Noxveil zu stehlen – andernfalls werden ihre Liebsten sterben. Doch keiner weiß, dass dieser Auftrag Teil einer uralten Prophezeiung ist, die das Schicksal aller Königreiche verändern könnte.

Inmitten von Verrat und finsterer Magie trifft sie auf den unbarmherzigen Schattenkönig. Gemeinsam werden sie in die rätselhafte Spiegelwelt gezogen, wo eine dunkle Macht lauert, die alles ins Chaos stürzt. Geheimnisse, die lieber verborgen geblieben wären, kommen ans Licht, und Cassandra sieht sich in einem Netz aus Lügen und Intrigen gefangen. Als ihre Welt ins Wanken gerät, weiß sie nicht mehr, wem sie trauen kann – oder ob sie jemals die Wahrheit erfahren wird.

"Schattenkrone: Der Fluch der Spiegelwelten" ist eine düstere Geschichte voller Magie, Verrat und einer Macht, die Cassandra und den Schattenkönig bis an die Grenzen von Licht und Dunkelheit führt.